Die 10 Federzeichnungen

II. Gruppe

Die Jungfrau im Männerkloster

(Eine Heiligenlegende)

Es war um die Pfingstzeit des Jahres 1187. Die Wälder um Schönau rauschten im neuen Schmuck der Blätter, die Obstbäume standen in herrlichster Blüte. Da klopfte eines Abends einmüder Wandersmann, der früh morgens von Speyer aufgebrochen war, an die verschlossene Pforte des romanischen Klostertores von Schönau. Er schien einem schmächtigen Jüngling gleich, mit langen, lockigen Haaren; so zeigt ihn eine der 10 Federzeichnungen aus späterer Zeit. Als der bärtige Pförtner öffnete und der Abt Godefrid ihn einließ, schritt der Ankömmling über die Torschwelle und mit ihm die am meisten romantische und von Wundern erfüllte Episode aus der Klostergeschichte von Schönau. Die Mönche nahmen den Ankömmling freundlich auf und später wurde er ihnen allen lieb und wert. Nur zwei machten eine Ausnahme. Dem einen stiegen seltsame Empfindungen in seiner Seele auf, so oft er ihn ansah - und er murmelte für sich: es ist ein Weib! Der andere suchte ihm auszuweichen und sich möglichst fern von ihm zu halten vor Angst und Schrecken, denn er behauptete: es ist der Teufel. Es war weder ein Weib noch ein Teufel; es war die hl. Hildegunde von Schönau.

Über das Leben der Hildegunde existieren drei Schriften. Eine Prosaschrift, die angibt, noch im Todesjahr der Jungfrau geschrieben zu sein. Eine zweite Vita Hildegundis ist gar nichts als die poetische Gestaltung dieser ersten Biographie in lateinischen Hexametern. Die dritte endlich muß später verfaßt sein und enthält mehr legendarisches und mirakulöses als die erste.

II. Gruppe, Bild 5

Federzeichnung 5 (1,3 MB)Hildegundis, die Jungfrau, verborgen im männlichen Kleide, Joseph genannt, begehrt fromm des gesegneten Ordens Gewand.

Hier sehen wir das große Klostertor, auf dessen beiden Seiten die Mauer sich hinzieht und innerhalb der Mauer eine Anzahl von Gebäuden, unter denen die Kirche durch ihren Dachreiter gut zu erkennen ist, noch 3 andere Gebäude tragen Türmchen.

Vor dem Tore steht der Abt mit dem Abtsstab, zwei Professen hinter ihm; vor dem Abt kniet Hildegunde; ihre Hände nach der Art der katholischen Gebetsweise gefaltet, bedeuten ihre demütige Bitte um Aufnahme; links hinter ihr steht der Bruder Pförtner, ein Converse, in ruhiger, erwartungsvoller Haltung, die beiden Hände hinter dem schurzartigen Überwurf seines Gewandes, wie in einem Muff verborgen. An seinem Gürtel trägt er eine Tasche und wie es scheint ein Messer in der Scheide oder Futteral, ebenso Hildegunde, beides in kleiner Gestalt. Das Auffällige an diesem Bilde ist der Umstand, daß Hildegunde lange Haare auf den Rücken hinabfallen läßt, was doch eigentlich der Unterschrift unter diesem Bilde selbst widersprechen würde, wenn wir nicht annehmen könnten, daß auch Mannsleute in damaliger Zeit nach einer alten Gewohnheit mancher deutschen Stämme die Haare lang getragen haben, wenigstens die Freien unter ihnen. Der Künstler liebt es offenbar, solche langen Haare zu zeichnen; auf dem Bilde der Wohltäter tragen vier Fürsten auch prächtig gekräuselte lange Haare. Möglicherweise sind aber diese Haare ein sozusagen bildliches Hysteron-Proteron, d.h. eine Vorwegnahme dessen, was erst später bekannt geworden ist.

 

 

II. Gruppe, Bild 6

Federzeichnung 6 (1,9 MB)Man schert der Jungfrau das Haar und zieht ihr das hl. Gewand an. Zur Rückkehr wird sie versucht, Eberhard der Fromme gewahrt es.

Man sieht in 3 Räume hinein: links in das Rasier- und Frisier-Zimmer des Klosters. Es hat 2 große Rundbogenfenster und ein Kreuzgewölbe mit großem Schlußstein. Es ist ohne Zweifel das Rasierzimmer, denn an der Wand links hängt ein runder Spiegel, wie ein Hohlspiegel gestaltet, und rechts unter dem Spiegel stecken an einer Leiste an der Wand 2 Messer ganz wie unsere Rasiermesser, wie zum Gebrauch ins Dreieck gelegt: noch ein Instrument liegt daneben, es könnte eine Bürste sein mit einem Stiel.

In diesem Raum sitzt Hildegunde auf einem Stuhl, ein Mönch legt von hinten her seine linke Hand auf ihren Scheitel und mit der rechten schneidet er ihr das Haar mit einer Schere ab. Zwei Mönche mit großer Tonsur stehen vor ihr; der eine hat das Mönchsgewand, das für Hildegunde bestimmt ist, über den linken Arm geschlagen, der andere trägt in der linken ein Paar hohe Stiefel, die wie Stulpenstiefel herunterfallen. Im zweiten Raume, in den wir über die Fensterbank hineinsehen, sitzt Hildegunde und liest mit einem Mönche aus einem Buch, sie ist gerade im Begriff, ein Blatt umzuschlagen. Die Versuchung, die sie erfährt, wird auf kraß naturalistische Weise kenntlich gemacht; ein geflügelter Teufel schwebt über ihr und hält in seinen Händen eine dicke Kette, die in einen eisernen Ring ausläuft und dieser Ring ist um den Hals der Hildegunde gelegt. Beim Teufel fehlen nicht die langen Ohren, die stachligen Flügel und die spitzigen Klauen, kurz ein Teufel von keinerlei Kultur beleckt.

Der dritte Raum dieses Bildes ist ein Platz zu ebener Erde unter einem von Säulen getragenen Vorbau. Da stehen 2 Mönche im Gespräch; von diesen wird wohl der eine der "göttliche" Eberhard sein, der die Versuchungen im Herzen der Jungfrau, vielleicht auch den Teufel samt seiner "verbindlichen Kette" sieht.

II. Gruppe, Bild 7

Federzeichnung 7 (1,4 MB)Bei dem Bau des Schlafsaals arbeitet fleißig die Jungfrau; aber im Probejahr noch, ruft sie zu den Sternen der Tod.

Man sieht hier, wie Hildegunde mit einem anderen Mönch auf einer Tragbahre Steine heranschleppt. Rechts oben im Bilde sieht man sie wieder auf einer Matte auf dem Boden liegend; zwei Mönche knieen rechts und links an ihrem Lager mit Licht, Weihwedel und Kruzifix, während zwei Engel in einem Tüchlein ihre Seele in den Himmel emportragen.

Außerhalb dieses Gebäudes sieht man drei andere Mönche beschäftigt: der eine trägt auf einer Leiter Mörtel herbei, der zweite legt Mörtel auf eine Quaderschicht auf, der dritte schlägt mit einem Hammer einen Quader fest. Auch hier ist die Vorrichtung zum Emporwinden der Steine zu sehen und zwar noch deutlicher; das Seil wird um eine Walze oder Rolle geschlungen und aufgerollt.

 

 

 

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